Christian
Sachse, 26. August 2006
Man
kann auch als Hartz-IV-Empfänger viel Spaß haben. Man muß nur der Aufforderung
des sogenannten JobCenters (früher mal Arbeitsamt) zu einem gemütlichen Treffen
folgen: „Ich möchte mit Ihnen über Ihre Bewerbersituation sprechen.“
Mitzubringen seien die Bewerbungsaktivitäten der letzten Monate.
So
weit, so gut. Nichts gegen behördliche Hilfestellungen.
Ich
weise drei Forschungsanträge vor. „Mehr nicht?“ fragt die Bearbeiterin. Ich
sage: „Für einen Forschungsantrag brauche ich wenigstens drei Monate. Das auch
nur, wenn ich wirklich gut bin.“ Ich habe das letzte Jahr unter Hochdruck
gearbeitet. „Wo haben Sie sich denn beworben?“ Ich merke jetzt, daß
Drittmittelanträge nicht als Bewerbung gelten und ziehe meine Trümpfe aus der
Tasche: Bewerbungen bei verschiedenen Instituten, Museen, beim sächsischen
Staatsministerium, eine Professur in Halle... Sie schaut nicht mal drauf: „Und
wieso sind sie nicht genommen worden?“ Ich erkläre ihr die deutsche
Universitätslandschaft. „Und Blindbewerbungen?“ Immerhin kennt sie den Begriff.
Ich erkläre ihr, daß ich mich erfolglos an sämtlichen in Frage kommenden
deutschen Universitäten beworben habe.
„Dann
müssen wir sie umschulen. Ach nein, das kommt für Sie altersmäßig nicht in
Frage. Sie kriegen einen Lehrgang.“
Ich
frage, welche Berufe sie so im Auge habe? „Security, Pförtner oder so was...“
Ich weise sie darauf hin, daß ich zwei Hochschulabschlüsse habe, Promotion im
Fach Politikwissenschaften mit „magna cum laude“. – Interessiert nicht. „Sie
haben jetzt drei Jahre auf Kosten der Solidargemeinschaft gelebt. Jetzt wird es
Zeit, daß Sie ihr etwas zurückgeben.“
Ich
weise darauf hin, daß ich vier Bücher geschrieben habe, unzählige Aufsätze,
Rezensionen, Interviews, Vorträge, Beratungen für Fernsehen und Rundfunk. Zumindest
die Bücher würden länger in den Bibliotheken stehen als sie am Leben sei.
Insofern hätte ich der Solidargemeinschaft trotz Hartz Vier eine Menge
zurückgegeben. Meine Bearbeiterin hält mich nun für arbeitsscheu. Sie sagt es
nicht, aber es wächst herüber. „Ein halbes Jahr gebe ich Ihnen noch.“ sagt sie.
Jetzt wird mir mulmig. Ich frage nach einem 1-Euro-Job. Sie fummelt an ihrem
Monitor. Für mich hätte sie nichts passendes. Ich bitte sie, den Monitor zu mir
herumzudrehen. Das tut sie. Mir fallen sofort zwei Angebote ins Auge: eine
Aufgabe als Soziologe, eine als Historiker. Den Soziologen druckt sie mir aus,
den Historiker will sie mir nachschicken.
Also
rufe ich bei einem gemeinnützigen demoskopischen Institut e.V. an. Man ist erfreut,
nimmt mich mit Handkuß. Ich sei der erste Wissenschaftler, der ihnen angeboten
worden sei. Ich freu mich und fahr sofort hin, um die Arbeitsaufgabe zu
erfahren. Sie ist mehr als schlicht. Ich soll innerhalb von vier Monaten eine
Prognose erarbeiten, welche Interessen heute 55-Jährige in zehn Jahren als
Rentner entwickeln würden, verbunden mit einer Vorhersage über die
demographische Entwicklung in diesem Sektor aufgeschlüsselt nach einzelnen
Regionen von Berlin-Pankow. Eine Aufgabe, die jeder Kellner in weniger als
einer halben Stunde erledigen kann. Meine Mitarbeiter werden mir vorgestellt:
ein Lehrer, ein Rundfunkredakteur und eine Kinderkrankenschwester – also eine
Art Elitepersonal. DIMAP könnte personell nicht besser ausgestattet sein. Mir
wird dann doch etwas heiß. Ich fürchte um meinen Ruf als Wissenschaftler,
verspreche aber eingedenk der Sanktionsmöglichkeiten des Arbeitsamtes, mein
Bestes zu geben.
Da
hilft mir der Zufall. Am nächsten Tag trudelt die zweite Empfehlung des
Arbeitsamtes ein: „Geschichte und Lebenswelten der ehemaligen Dörfer im
heutigen Pankow“ – oder so ähnlich. Meine Welt. Ich bin glücklich und will
sofort anfangen. Ein Buch mehr auf meiner Publikationsliste.
Doch
ich werde zunächst zu einem Aufbaukurs geschickt. Zehn Tage lang werde ich
jetzt fit gemacht für die Arbeitswelt.
1.
1. Tag: Ich erhalte einen Crash-Kurs in
Textverarbeitung. Auf meinen Hinweis, daß ich bereits ein paar Bücher
geschrieben und mit Layout versehen habe, hat der Dozent ein Einsehen. Ich darf
meinen Laptop von zu Hause holen und weiter an meinen Projekten arbeiten. Neben
mir sitzt ein Bauarbeiter, der mir zumurmelt, noch nie an einem Computer
gesessen zu haben. Wegen der hohen Intelligenz des Windows-Programms gelingt es
ihm nicht, die Systemdateien zu zerstören. Zwei Plätze weiter spielt eine Frau
den ganzen Tag FreeCell (ein Spiel, das tatsächlich hohe Ansprüche an das
Kombinationsvermögen stellt). Wahrscheinlich ist sie unterfordert. Aber das
interessiert hier keinen. Gegen Nachmittag bekomme ich noch mit, daß die
Kursteilnehmer Zahlen in einer Excel-Tabelle einmal fett, ein anderes Mal
kursiv formatieren sollen. Für manche eine schwer zu bewältigende Aufgabe. Ich
verkneife mir die Frage, was ich hier soll und arbeite weiter an meinem neuen
Projekt.
2.
2. Tag: Nun wird es richtig ernst. Ich soll zur Arbeit
motiviert werden. Nachdem die Anwesenheitsliste unterschrieben ist,
verschwindet die Hälfte der Kursteilnehmer. Ich bleibe, weil ich neugierig bin.
Und erfahre Unglaubliches. Ich soll mein Kurzzeitgedächtnis trainieren. Dann
fühle ich mich besser. Dann hätte ich auch die Chance, länger zu leben als
andere. Sogar ein Büchertisch ist aufgebaut, wo man die entsprechende Literatur
kaufen kann. Nichts gegen kommerzielle Interessen. In der Pause erzählt mir die
Dozentin, daß sie lange Jahre Schulleiterin (damals hieß das Direktorin)
gewesen sei. Sie habe dann aber an der Humboldt-Universität (oder war es die
Karl-Marx-Universität in Leipzig) ein Studium des Marxismus-Leninismus
aufgenommen, um in die Weiterbildung zu wechseln. Heute sei sie Gerontologin.
Ich gebe der Gerontologin, was der Gerontologin ist,
und sage ihr, daß ich nicht motiviert werden müsse. Ich arbeite seit
Jahrzehnten wie ein Vieh und seitdem ich im Westen lebe auch gern (positiver
Streß).
Nach der Pause bekomme ich die Unterschiede zwischen
kristalliner Intelligenz und flüssiger Intelligenz erklärt. Mein Nachbar – ein
64-jähriger Diplomingenieur, der sich fürderhin auch als Historiker betätigen
soll – behauptet daraufhin, es müßte dann wohl auch eine gasförmige Intelligenz
geben. Gelacht wird nicht. Erst als er behauptet, evangelische Pfarrer würden
älter als katholische, weil sie Sex hätten, entspinnt sich eine müde Debatte.
Die Dozentin beharrt darauf, daß eine schlechte Beziehung besser sei, als gar
keine, was glücklicherweise von einer Frau neben mir vehement bestritten wird.
Gegen Nachmittag wurde mir dann noch vermittelt, daß
in Folge der industriellen Revolution die linke Gehirnhälfte den Siegeszug über
die rechte angetreten hätte. Ursprünglich aber sei die rechte Gehirnhälfte vor
der linken entstanden. Auf meinen Einwand hin, daß eine solche These wohl der
letzte Schwachsinn sei, wurde ich für unbelehrbar erklärt.
War
doch schön! Endlich mal unter Menschen, endlich mal soziale Kontakte. Neues, News, Innovation. Ab Montag haben wir
Kommunikation/Bewerbungstraining, Mittwoch Textverarbeitung. Auf Mittwoch freue
ich mich besonders. Da darf ich meinen Laptop mitbringen und an meinem neuen
Buch weiterschreiben. Sorgen machen brauche ich mir auch nicht. Wenn ich auf
Pförtner umgeschult worden bin, gibt es in meiner Loge sicherlich eine
Steckdose, wo ich meinen Rechner anschließen kann.
Wenn
Sie mal an einer Schranke stehen, wo der Pförtner einfach nicht auf’s Knöpfchen
drücken will, obwohl Sie ihm Ihren Ausweis unter das abwesend wirkende Gesicht
halten: Das könnte ich sein. Ich schreibe dann gerade an einem neuen Buch –
vielleicht über die Zukunft Deutschlands.