Zurück zu Texte?

Die Zukunft der Kirche - das Ende einer Institution

 

Christian Sachse

 

(Überarbeiteter Vortrag, ursprünglich als Aufsatz erschienen in: Radius, Die Kulturzeitschrift zum Weiterdenken. Herausgegeben von der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland Nr.2/1989)

 

Das Römische Reich liegt in der Agonie.

Der durch endlose Machtkämpfe wirtschaftlich und kulturell ruinierte Großstaat ist dem Feind, der Anarchie, dem Chaos, der Barbarei - wie man eine fremde Macht auch immer bezeichnen mag - wehrlos ausgeliefert. Der mit Schwert und List zusammengepokerte Vielvölkerverband des Römischen Reiches ist auseinandergefallen wie eine Handvoll Mikadostäbe. Das Heer ist geschlagen, gefangen, gar zum Germanen übergelaufen, die gigantische Wirtschaftsmacht zusammengebrochen. Die hohe Kultur wird sich mit dem Verwehen des Rauches brennender Archive in ein Nichts auflösen.

Allein der Kaiser zusammen mit seinem Hofstaat, bestehend aus dem Finanzminister, dem Koch, dem Kriegsminister und einigen Bediensteten, residiert fernab von den weltumstürzenden Ereignissen in der ländlichen Idylle einer lächerlichen Kleinstadt, die letzten Quadratkilometer seines ehemaligen Weltreiches zu regieren.

Am kaiserlichen Hof werden wie ehedem Intrigen geschmiedet, der Endsieg proklamiert, der Staatsbankrott vertuscht. Das alles vielleicht nach dem Motto: „Wir werden weiter regieren, wenn alles in Scherben fällt.“

Die hektische Betriebsamkeit am Hofe des sterbenden Reiches ist das Resultat aus dem Selbstlauf eines institutionellen Machtapparates, der über ein Nichts regiert, aber das mit großem Aufwand.

 

Der Staat stirbt als letzte Instanz.

So lautet des Schweizers Friedrich Dürrenmatt umstürzlerische These in seinem tiefsinnigen Historienspektakel „Romulus der Große“. Wie der Staat entstand, ob natürlich oder als positives Gebilde durch Vertrag, darüber mögen die Philosophen streiten. Doch daß er als letztes zerfällt, vor allem nie vor dem Volk, darüber gibt uns die Geschichte lebendigen Anschauungsunterricht. Man denke nur an die Heldenreden des größten aller Reichskanzler heraus aus seinem Regierungsbunker an das nichtexistente deutsche Volk im Frühjahr 1945. Oder man stelle sich die gespenstischen Szenarien des Kalten Krieges vor, in denen die politischen und militärischen Eliten - rot oder schwarz: in trautem Einvernehmen - im Ernstfalle in ihre riesigen Bunkeranlagen zu verschwinden gedachten, um von dort aus das dramatische Theater eines Atomkrieges in Gang zu halten, den sie freilich nur zur Verteidigung ihres Volkes zu führen beabsichtigten. Man halte sich die martialischen Machtbeweise der Kremlführung aus heutigen Tagen vor Augen, die „abtrünnige“ Völker mit einem wahren Gottesgericht überziehen, da die sich von einem Weltreich abwenden, von dem sie alles erwarten können, bloß nichts zu essen und anzuziehen.

 

Der Staat stirbt erst nach dem Volk.

Romulus der Große, der letzte Kaiser des Römischen Reiches, kennt nach Dürrenmatts Willen dieses eherne geschichtliche Gesetz. Romulus jedenfalls tut das Seine, als Repräsentant des Staates diesem Schicksal zu entgehen. Durch gezielte Schlamperei und demonstratives Desinteresse am Staatsgeschäft versucht er, einen Staat zugrunde zu richten, der es wert ist zugrunde zu gehen:

Erbaut nach Romulus Worten auf den Totenschädeln unzähliger Erschlagener, zusammengeschmiedet durch die Vergewaltigung autonomer Kulturen, seelenlos allein durch seine überdimensionale Größe, entspricht es nur der Logik der Geschichte, daß der Römische Großstaat vergeht, zerschlagen wird, zerfällt...

Bis zu Romulus haben alle römischen Kaiser gerade mit den Mitteln des Erschlagens, Vergewaltigens, des gewaltsamen Expandierens nach außen und innen dem unaufhaltsamen Zerfall ihres Reiches zu entgehen versucht. Es kam, wie es kommen mußte. Die Spirale drehte sich immer schneller abwärts. Je größer das Reich wurde, desto größer mußte das Maß an Gewalt und Zerstörung sein, die das Reich zusammenhielt. Je größer aber die Gewalt desto instabiler das Reich...

Dieses politische Verfahren, das Schicksal mit genau den Mitteln abwenden zu wollen, die es in Form des Unterganges herbeirufen, entspricht dem Schema der antiken Tragödie. So riefen die alten römischen Kaiser mit ihren Kriegen genau jenes Schicksal herbei, das sie zu verhindern meinten: Den Zerfall des Reiches.

 

In seinem Theaterstück über „Romulus den Großen“ kehrt Dürrenmatt augenzwinkernd das alte, weise und hilflose Schema der antiken Tragödie um und macht damit ihre Weisheit und Hilflosigkeit transparent: Romulus - ebendeshalb der „Große“ - ruft anders als seine gewalttätigen Vorgänger den Zerfall des Reiches bewußt herbei. Er will seinem Schicksal nicht entgehen, sondern das Schicksal des Reiches ausschreiten. Damit eröffnet er der Geschichte des Menschlichen im Menschen eine Chance.

Romulus wählt nicht mehr nach der historisch scheinbar streng vorgegebenen Alternative: Sieg oder Niederlage, Du oder Ich. Anstatt sich im Wählen zwischen den Polen einer ausweglosen Alternative zu verlieren, schafft er die dritte Möglichkeit und zeigt so, daß der Mensch in der Lage ist, die ursprünglichen Gesetze und Möglichkeiten von Geschichte zu transzendieren. Romulus wird Schöpfer von Geschichte, indem er sich ihren Mechanismen auf kreative Weise entzieht.

Daß dieser neue Weg, gleichsam der Gorbatschow´sche Zusammenbruch in der Antike, nicht ohne fundamentale Irrtümer abläuft, lehrt uns Dürrenmatt, indem er den klassischen Dreiakter zum Vierakter überhöht, der uns auch das Scheitern des Kaisers Romulus vor Augen führt. Schade, möchte man ausrufen. Doch seinem Schicksal entgeht halt keiner, auch dann nicht, wenn er den Völkern das Selbstbestimmungsrecht zurückgeben will. Wir haben es erlebt.

 

Romulus verkehrter und sicher auch zynischer Weg aus den Alternativen war verblüffend kreativ (Wir haben uns nun endgültig in´s Dürrenmatt´sche Theater begeben): Er stellt sich verschroben und verleiht die hehren Namen seiner kaiserlichen Vorgänger an seine Hühner, die übrigens keine Eier legen, als wollten sie die Fruchtlosigkeit ihrer Existenz sinnfällig demonstrieren. Romulus verscheuert die Denkmäler der Imperatoren an einen windigen Antiquitätenhändler und demontiert so eigenhändig das Image des Römischen Reiches. Er sabotiert passiv die  Staatsgeschäfte, ist bereit zu leiden und leiden zu lassen - das alles für die Idee, ein Großreich in die menschliche Dimension überschaubarer menschlicher Gemeinschaft zurückzuführen. Der Coup gelingt, allerdings nur in seiner destruktiven Seite. Romulus vertrottelte Haltung erfaßt den ganzen Staat und treibt ihn in den Ruin. Die Germanen kommen. Und mit ihnen - welch furchtbare Logik im Theater(!) der Geschichte - mit ihnen ein neuer militärischer Führer, der nun sein neues Großreich auf die Gewalt des Schwertes zu stützen gedenkt. Das Mittelalter steht an der Pforte.

 

Verlassen wir das Theater und nehmen wir zwei tiefsinnige Erkenntnisse mit uns:

Der Staat, die Institution, stirbt zuletzt.

Großreiche sind unmenschlich.

Wenden wir uns nun einer Institution zu, die aus Rom kommend als Großreich bis auf unsere Tage gekommen ist: Die Kirche.

 

Die Kirche, die nach ihrem Selbstverständnis die Versammlung aller Gläubigen sein will, ist tatsächlich eine Organisation von Funktionären ohne eigentliche Mitglieder. Es hat sich eingebürgert, die Größe der Kirche nach ihren Steuerzahlern zu bemessen. Sucht man aber nach denjenigen, die das Leben der Kirche brauchen, es vorantreiben und gestalten, so ist das Ergebnis in weiten Teilen Deutschlands deprimierend. Der Besuch eines Gottesdienstes in einer beliebigen Kirche außerhalb der wenigen kirchlichen „Hochburgen“ kann dies sinnfällig demonstrieren.

Darüber hinaus ist die soziale Struktur der Gemeinden rettungslos zerklüftet. Abgesehen davon, daß eigentümlicherweise besonders der Mittelstand dem Evangelium Jesu Christi zuneigt, zeigt sich eine starke Überalterung. Der weit unter dem statistisch Erwartbaren liegende Rückgang an Taufen und Trauungen bildet dafür ein Indiz.

Dies wäre ja alles nicht so tragisch, wenn die Kirche sicher sein könnte, Hort einer kleinen aber entschiedenen Minderheit zu sein. Tatsächlich aber hat die Kirche auch ihren prägenden Einfluß auf das Leben der „treuen Christen“ weitgehend verloren. Ob hier die Kämpfe um die Reaktivierung des Religionsunterrichtes in Brandenburg altes Terrain zurückgewinnen helfen, ist dabei mehr als fraglich. Die alten und jungen Mitglieder der Kirchen bestimmen ihre Lebensweise im Alltag eben nicht mehr nach Predigt und Katechismus sondern nach eigenen, oft sogar biblisch motivierten Überlegungen unabhängig von den Lehren der Kirche.

Alte Institute wie Sündenvergebung, geistliche Ermahnungen und Ratschläge, meist auch Taufe und Abendmahl, werden nicht mehr als lebens- geschweige denn heilsnotwendig empfunden. Das Leben in der Gemeinde vermittelt in der Regel nicht mehr Geborgenheit als in jedem anderen Freizeitverein. Es ist austauschbar geworden. Von daher führt institutioneller Druck über die Kirchensteuern (Verweigerung von Amtshandlungen) oft zum raschen Entschluß, aus der Kirche auszutreten. Vielleicht würden auch noch viel mehr Leute aus der Kirche austreten, wenn nicht die Kirche die Möglichkeit der himmlischen Seligkeit an eine Kirchenmitgliedschaft gebunden hätte. Aber auch das Geschäft mit der Angst verliert an Wirkung, gesellschaftliche Reputation ist ohnehin kaum von einer Kirchenmitgliedschaft zu erwarten.

Das Ende der Volkskirche ist manifest.

Das ist bekannt.

Aber keiner aus dem kirchlichen Apparat darf und will es in den Konsequenzen wahrnehmen.

Geradezu als Gegenpol zur sterbenden Basisstruktur der Kirche stellt sich der Apparat in hektischer Betriebsamkeit dar. Fast möchte man einen alten Werbeslogan abwandelnd mißbrauchen: Nie war er so wertvoll wie heute.

Und in der Tat: Eine unglaubliche Fülle von Aktivitäten enthüllt sich dem Auge des Betrachters. Zunächst ist da die wirklich erstaunliche Sensibilisierung des kirchlichen Apparates in den noch vor wenigen Jahrzehnten als weltlich Ding abgetanen Fragen des sozialen Miteinanders (gerade jetzt!), der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, des politischen Friedens (Landminen!), der uns umgebenden Natur, der eigengesetzlichen Dritten Welt, der fremden Kulturen der ökumenischen Partner, der gesellschaftlichen Rolle der Frau, ja nun auch noch Homosexualität bei Pfarrern... die Luft möchte einem ausbleiben. Die Aufzählung ist wahrhaft fragmentarisch.

Wer meint, die Theologie sei zum Erliegen gekommen, sei eines Besseren belehrt. Die Bibel wird inzwischen durch gigantophile exegetische Werke bis ins kleinste ausgeleuchtet. Die Varianten an systematischen und ethischen Modellen innerhalb der Theologie sind Legion. Die Geschichte der Kirche ist Gegenstand erheblicher Kontroversen. Man kann die Ergebnisse als Taschenbuch kaufen oder als anspruchsvolles wissenschaftliches Werk. Und: Immer neue Schulen und Denkfelder tun sich auf.

Aber auch der administrative Apparat rotiert auf vollen Touren: Eine Flut von rechtlichen Regelungen und Reformen ergießt sich über die Ämter, Rundschreiben, Informationen, Arbeitsmaterialien für Kinder, Jugendliche, Gesunde, Arme, Geschädigte, Alte, Alkoholiker, Verheiratete... Nein, an Papier ist kein Mangel.

Die kirchlichen Kontakte umspannen die ganze Welt, Besuchern aus aller Welt wird das kirchliche Leben vorgeführt. Nachdenklich über unsere Erfolge fahren sie nach Hause. Juristen regeln Recht. Kommissionen tagen nächtelang, stampfen Programme für Stadt und Land aus dem Boden, einigen sich in strittigen Fragen. Synoden geben mutige Voten ab und stoßen grüblerisch fragend in die Zukunft vor. Bischöfe und Konsistorien steuern in stressigem 16-Stunden-Arbeitstag das Kirchenschiff durch die Fährnisse der Politik und knappen Finanzen. Der kirchliche Apparat ist sogar fähig geworden, den Kurs in Maßen dem Zeitgeist der Zeit anzupassen, gefälliger zu wirken und den Untergang durch geschickte Wendungen und Schleifen hinauszuzögern.

Die alte Maschinerie der Großkirche steht weiter unter Volldampf. Niemand scheint zu bemerken, daß das Schiff bis an die Reling unter Wasser steht, die Mannschaft bereits von Bord gegangen ist. Allein die Führungscrew ahnt noch nichts. Oder doch?

Nein, ich will mich mit dieser bissigen Schilderung nicht lustig machen über diese fleißigen und oft auch kreativen Beamten und Mitarbeiter beiderlei Geschlechts. Ich staune nur über ihre Blindheit.

Denn für wen gibt sie denn vor, alle diese Aktivität zu entfalten, diese große Mutter-Maschinerie?

Fürs Kirchenvolk natürlich, eigentlich aber „für alle“. Aber die sind - äußerlich und innerlich - schon längst weggelaufen.

Die Verlautbarungen der Synoden nimmt der durchschnittliche Christ nicht zur Kenntnis, selbst wenn sie in die „Tagesthemen“ vordringen. Die demokratischen - oder oft undemokratischen - Feinheiten der innerkirchlichen Wahlvorgänge nimmt schon deshalb kaum jemand war, weil sich der größte Teil der Christen von ihnen nicht tangiert fühlt.

Der kirchliche Apparat funktioniert von ganz oben bis hinunter zu den Dorfpfarrern, Jugendmitarbeitern und Küstern. Dann hört er abrupt auf. Eine Gemeinde als empirisch faßbarer Sozialkörper mit einer funktionierenden Binnenstruktur aber fehlt, von inselhaftem Neuaufblühen und Restbeständen abgesehen. Die wenigen engagierten ehrenamtlichen MitarbeiterInnen reiben sich in ihrer uneigennützigen Arbeit auf.

Für den kirchlichen Apparat gibt es Gebäude zu verwalten, Grundstücke - totes Inventar. Und natürlich verwaltet er sich selbst - lebendes Inventar.

Ein lebendiges Gegenüber für die hochaktive Informationserzeugungs- und Verarbeitungsmaschinerie gibt es nicht mehr, geschweige denn ein Kirchenvolk, das sich regieren ließe.

Es liegt die Vermutung nahe, daß diese ganze hektische Betriebsamkeit des kirchlichen Apparates nichts weiter ist als der halbbewußte Reflex der Erkenntnis, daß es mit der Kirche zuende geht - zumindest mit einer Kirche, wie wir sie uns mit unserer (deutschen) Geschichtserfahrung vorstellen.

Was nun? Schimpfen wir auf das ungetreue Kirchenvolk, das sich unserer liebenden Fürsorge weitestgehend entzogen hat? Lasten wir es - im Osten - dem kommunistischen Regime an, das durch Druck und Drohung die Christenheit zerbröckelt und zerbröselt hat? Trauern wir vielleicht gar den alten Zeiten nach, in der Not - in der Kirche natürlich - noch Beten lehrte? Klettern wir in Jeans, Punker- oder Managerklamotten, lassen wir uns von Scharlatanen neue Kleider nähen, um im neuen Gewand verlorenes Terrain wiederzugewinnen? Oder beschränken wir uns, weise geworden, auf die Sicherung des Bestandes (einmal wird unsere Zeit ja doch wiederkommen)?

Oder bringen wir den Mut auf, endlich auch öffentlich zu sagen, was jeder weiß: Daß des Kaisers neue Kleider seine Blöße eben doch nicht bedecken können? Wollen wir endlich die vernebelnden Vokabeln lassen, die von „Gesundschrumpfen“ über „Diaspora“ bis zur „zerschlissenen Volkskirche“ reichen?

 

Es besteht die Chance, im ungeliebten Verfall der Großkirche einen Prozeß zu sehen, der  - spät - aber mit historischer Folgerichtigkeit abläuft. Ein Prozeß, der nicht einmal schlecht für den Lauf des Evangeliums ist. In diesem Sinne sollten wir uns - im Gedenken an Romulus den Großen - dem Zerfall der Großkirche nicht mehr widersetzen, sondern die einmal eingebrockte Suppe auch auslöffeln, indem dieses von unseren Vätern (weniger von unseren Müttern!) und uns verschuldete Schicksal durchmessen.

 

Der Weg führt weg von der Großkirche. Die neutestamentliche Gemeinde, über die uns historisch zuverlässige Zeugnisse vorliegen, ist nicht zufällig nach dem Muster der Familie gebildet oder am Modell des menschlichen Körpers orientiert. Jesus selbst hat 12 Jünger gehabt. Rechnet man die Frauen hinzu, mögen ihm etwa zwanzig Menschen eng verbunden gewesen sein. In diesen eben geschilderten Kleingruppen fanden sich die Menschen zusammen, um das gute Verhältnis untereinander und zu Gott auszukosten. Paulus versandte keine Rundschreiben an die Heidenchristen des östlichen Mittelmeerraumes. Er schreibt - beispielsweise - an die Gemeinde von Korinth, nennt Namen, greift Gerüchte auf, grüßt Menschen, mit denen er in Freud und Leid verbunden ist. Seine Briefe sind theologisch und privat zugleich. Die spätere Großinstitution griff von daher auch lieber auf den Römerbrief zurück, der als der theologisch brisanteste galt, wohl deshalb, weil er die wenigsten konkreten Lebensvollzüge berücksichtigt.

Jede der urchristlichen Gemeinden war ein Sozialkörper mit einer individuellen Binnenstruktur. Wohl gab es in jeder Gemeinde Ämter und Aufgaben, aber nicht auf Grund einer flächendeckenden Regelung eine übergeordneten Organisation. Die örtlichen Gegebenheiten und Traditionen, die Form der geglaubten Lehre, die einmal anwesenden Menschen und sogar der Zufall gaben jeder Gemeinde ihr unverwechselbares Gepräge. Hundert Kilometer weiter und fünf Jahre später mag alles schon ganz anders ausgesehen haben. Es lebte, es starb - je nach Gegebenheit.

Diese lebendige und ungeschützte Art des Seins der Gemeinden hatte einfach ihren Grund darin, daß das Evangelium als erfüllende Beziehung untereinander und zu Gott verstanden wurde. Das Evangelium - welch simple Wahrheit - ist eben nicht die abstrakte sich immer und überall gleichbleibende Idee, die jene weltweite Organisation ermöglichen würde, welche mit der Gleichmütigkeit des Ewigen über das Individuelle, Sterbliche hinwegschritte. Die nach den Urgemeinden entstehende Großkirche ist auch nicht das ausgereifte folgerichtige Produkt weltweiter Mission in Erfüllung des biblischen Auftrages. Sie ist eine der möglichen und leider eingetretenen Fehlentwicklungen. Die Überhöhung des von Jesus verkündigten „menschlichen“ Gottes in ein über den Seins-Kategorien thronendes blutleeres Monstrum ist glaubenstötendes Werk der Großkirche, die im Begriff ist, die Ewigkeit für sich zu pachten. Der Fehler liegt schon vor der konstantinischen Wende.

Die Botschaft Jesu dagegen stiftet Leben in der Beziehung zwischen Individuen, die nun einmal unverwechselbar sind. Und das lebt sich nur in der überschaubaren Gruppe, frei von der Heteronomie einer Großinstitution: In Korinth zum Beispiel oder in Dresden.

 

Das Leben in einer Großinstitution zwingt in die Heteronomie. Ist dieser Effekt in bestimmten Großinstitutionen bezweckt (etwa in einer Armee), in anderen Großinstitutionen ein methodisch zu kompensierendes Übel (etwa in einem Verein), so ist er für die Kirche vollständig auszuschließen.

Wir sprechen mit Bedacht von der Heteronomie in der Groß-Institution. Es kann gar nicht geleugnet werden, daß es zur Regelung des menschlichen Miteinanders auch zu vereinbartem Handeln kommen muß, das mit sich räumlich und zeitlich über eine gewisse Zeit identisch bleibt. Das notwendig „flächendeckende“ Denken und Handeln im Rahmen einer Großinstitution aber hat die Tendenz, lokale Traditionen der Lebensvollzüge zu zerstören und ihre vielfältigen Ausprägungen zugunsten einer vereinheitlichten Wirklichkeit zu verflachen. Mit der Größe wächst proportional die Unfähigkeit auf individuelle, unvergleichbare Lebensvollzüge zu reagieren. So muß eine Großinstitution mit ihren Mitteln der Macht und des Einflusses versuchen, eine ihren Reaktionsmöglichkeiten angepaßte vereinheitlichte Wirklichkeit zu erschaffen. Wir kennen diesen Effekt aus dem letzten osteuropäischen Großreich zentralistischer Prägung. Aber auch die westliche Eurokratie dürfte nicht frei davon sein.

Eine vereinheitlichte Wirklichkeit bedeutet aber, die Menschen mittels Lockung und/oder Gewalt in vergröberte Verhaltensnormen zu pressen und ihnen Bekenntnisse der Loyalität abzunötigen. Der Mensch wird auch durch die Großinstitution Kirche in die Heteronomie gezwungen. Anders läßt er sich gar nicht verwalten. Er muß dort beherrscht, zu einer bestimmten Weise der Wirklichkeitssicht und des Verhaltens gezwungen werden, wo er sich womöglich ohne diesen Einfluß im wahrsten Sinne des Wortes ungezwungen in örtlich angemessenes Verhalten begeben hätte.

Die Vereinheitlichung von Individualitäten nötigt zur Herrschaft, letztlich zur Gewalt. Die Kirche hat sich, abzüglich einer Liste von Entgleisungen, die signifikant sind, eher psychischer Mittel zur Durchsetzung der Heteronomie bedient. Da ist zunächst die Angst vor Gottes Strafe, die die Menschen an das Institut der Sündenvergebung band. Ein zweites Mittel war der Zugriff auf das Denken der Menschen durch allgewaltige, gottsanktionierte Sprachregelungen, das Credo beispielsweise, das das umfassende Vertrauensverhältnis zu Gott und die umfassenden Lebensvollzüge in der Gemeinde auf ein paar konsensfähige Wahrheiten reduzierte, nachzuplappern - kaum nachzuvollziehen - in jedem Gottesdienst und möglichst noch darüber hinaus. Im Weigerungsfall drohte der Ausschluß aus der Organisation, zeitweise verbunden mit gesellschaftlicher Ächtung. Der Geist Gottes wurde in den de facto als abgeschlossen definierten Kanon heiliger Schriften verbannt und die gültige Interpretation vorgeschrieben. Wie blutleer erscheint doch gegenüber einem durchschnittlichen Christenleben die Basisformel des Ökumenischen Rates der Kirchen! Doch genug der Beispiele.

Das Kirchenvolk hat sich den seelenlosen Vereinheitlichungstendenzen der Großinstitution Kirche auf die verschiedensten Weisen zu entziehen versucht. Da es christlichen Glauben per definitionem außerhalb der Kirche nicht geben konnte, entwickelte sich ein doppeltes Glaubensleben in der Kirche. Man vergleiche die vom „Laienglauben“ geprägte Spielmannsdichtung des Mittelalters mit der Hochtheologie der selben Zeit. Man betrachte die vielen Sekten und enthusiastischen Gruppen, die aus der Kirche ausgebrochen sind, um ihren Glauben zu leben. Man betrachte die Aufbrüche aus der Kirche in die Welt, wie sie von den Intellektuellen und Arbeitern seit dem Ende des 18.Jahrhunderts vollzogen wurden. In der Kirche blieb die große Masse derer, die sich äußerlich zu den ins Transzendente destillierten Wahrheiten bekannten, innerlich aber von jedem Glaubensleben abgeschnitten waren. Man lese in den Pfarrämtern die Chroniken der letzten vierhundert Jahre. Der Selbstlauf der Institution erlaubte es, sich über lange Zeit über das Ausmaß des Schadens hinwegzutäuschen. Mahner hat es allerdings auch immer gegeben.

Heute zeigt sich: Die Mitgliedschaft in der Kirche erspart geradezu eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben, da alle ohnehin reduzierten kirchlichen Lebensvollzüge (Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung, Teilnahme an weiteren kirchlichen Riten) bereits über die Entrichtung der Kirchensteuer geregelt sind. Was nun noch verlangt wird, ist das, was die Kirche üblicherweise immer verlangt: Ein formales Ja. Das bekommt sie auch.

 

So kommen wir zu dem bestürzenden Fazit: Die Großinstitution Kirche ist eine dem Evangelium unangemessene Organisationsform. Die Reduktion des sichtbaren und erfahrbaren unumschränkten Du des Nächsten auf seine Funktion in strukturellen Zusammenhängen unter dem Vorzeichen der Optimierung des Verwaltungsaufwandes der Großinstitution widerspricht dem Evangelium. Die Kirche kann dem Evangelium nicht gerecht werden, solange sie als Großinstitution den von Gott autonom gestalteten Menschen in die Heteronomie ihres Apparates zwingen will. Die Großinstitution Kirche ist nicht in Lage, die je und je persönliche Ansprache Gottes an den Menschen weiterzutragen, das Zusammenleben der Menschen nach dem Prinzip des „Du“ zu fördern. Statt autonomer, frei vor Gott und den Menschen stehender christlicher Gemeinschaften hat sie eine amorphe heteronome Masse erzeugt, der sie als hochstrukturierter mächtig-machtloser Apparat hilflos gegenübersteht. Fast möchte man sagen: im Sinne der griechischen Tragödie bekämpft die Kirche ihren Zerfall, der nur folgerichtig ist, indem sie ihre institutionellen Strukturen weiter ausbaut und differenziert. Sie treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus.

 

[...] Ich stelle mir die Kirche der Zukunft als die offene Bewegung des Glaubens vor. Kein mächtiger, aber auch entfremdender organisatorischer Apparat schützt die Gemeinden vor dem Zerfall, dem geistigen und auch materiellen Ruin.

Das Bleiben oder Sterben der Ortsgemeinde ist ein leidvoller oder freudvoller Prozeß, der nur von den Christen am Ort gestaltet und verantwortet wird. Der größte über längere Zeit feste Zusammenschluß von Christen ist die Gruppe. Sie ist die Gemeinde. Diese Gemeinde ist geprägt von den persönlichen Freundschaften und Feindseligkeiten, die Menschen eben miteinander verbinden. Die Gemeinden erscheinen als lockere Assoziationen von Menschen gleicher Gesinnung, als Familien, als engagierte Gruppen bis hin zu Kommunitäten mit verbindlichen Lebensregeln. Sie besitzen nichts als das was sie einbringen - an geistigen und materiellen Gütern. Die Lebensdauer und Größe solcher Gruppen ist den örtlichen Gegebenheiten angepaßt und schwankt mit der Zeit. In jeder Gruppe entwickelt sich ein individuelles, nur für diese Gruppe typisches Glaubensleben, das mitunter auch zu dem Glaubensleben anderer Gruppen in frappantem Widerspruch stehen kann.

Biographisch junge Gruppen mit relativ offenen Strukturen und großem Engagement stehen neben gealterten Gruppen mit erstarrten, absterbenden Beziehungsgefügen. Diese Gruppen sind weltorientiert oder dem Jenseits zugewandt. Die Grenzen zum Atheismus oder zu anderen Religionen hin sind fließend. Es gibt Gruppen, die sich frommer Übungen befleißigen und solche, die im sozialen Engagement ihre Verwirklichung sehen. Die teilweise geübten alten kirchlichen Riten wie das Abendmahl gelingen so zu einem Akt der gelebten Gemeinschaft von Menschen, die den Streit begraben und Freundschaft beleben wollen. Niemand schreibt ihnen vor, wie sie zu sein haben.

Sicher wird es in solchen Gruppen Aktive, Passive, Forsche, Bedenkliche, Fromme und Freie, Konservative und Umstürzler, Propheten und Ketzer geben, Aufgaben vielleicht sogar Ämter. Doch alles wird den örtlichen Gegebenheiten angepaßt sein.

Die Kontakte zwischen den Gruppen unterliegen dem Zufall persönlichen Kennenlernens. Es gibt selbstgenügsame und nach außen orientierte Gruppen.

In diesen Gruppen holt sich der Christ nicht maximal Stabilität und Anregung für seinen ansonsten ganz anders gearteten Alltag. Er lebt seinen christlichen Glauben mitten in seinen sozialen Bezügen. Gemeindeleben ist privat.

Solche Gemeinden gleichen - biblisch gesprochen - mehr dem Salz der Erde. Die bedrohliche „Stadt auf dem Berge“ (eigentlich ein Bild für die die Ebene beherrschende Festung) ist die Kirche schon lange genug gewesen. So ist auch das gesellschaftliche Engagement dieser Gemeinden nicht in der geballten Ladung der Organisation sondern findet sich im gewaltfreien Unterwandern ungerechter Lebensverhältnisse.

In einer solchen Kirche weht der Geist - wieder biblisch gesprochen - wo er will. Wo er nicht wirksam ist, entsteht das leidvolle Sterben von Kleinstgruppen, aber nicht der neurotische Überdauerungswahn der sklerotischen Organisation. Leitbild einer solchen Kirche sollte das wandernde Gottesvolk sein, das keinen Ersatz des Glaubens durch die Organisiertheit in kirchlichen Strukturen kennt.

 

[...] Aber, so wird man - wie die beiden Butler in Dürrenmatts Theaterstück - fragen dürfen, was aber ist mit der hohen Kultur der Humanität, die die Kirche zumindest in ihrer Theorie bewahrt hat, allen finsteren Zeiten der Kirchengeschichte zum Trotz? Soll die reine Lehre des Glaubens ins Chaos versinken, in der sicher kommenden Anarchie der Beliebigkeit jeglicher Glaubensaussagen verkommen? Sollen wir unsere lateinischen und griechischen Schrifttümer, die Ergebnisse unserer theologischen Wissenschaften für eine solch windige Sache, wie es das Wehen des Geistes Gottes nun einmal ist, verschleudern und verschludern lassen? Steht der Antiquitätenhändler vor der Tür? Werden sich nicht später andere des Gottesvolkes bemächtigen, das seiner Führung beraubt, doch endlich bloß dumpfe Masse bleibt?

 

[...] Dürrenmatt jedenfalls lehrt uns, daß nach dem Ende des Römischen Reiches nicht das Ende der Geschichte lauert.

Für die Kirche wird es Zeit, ein neues Kapitel ihrer Geschichte aufzuschlagen. Und das beginnt - wie stets - mit dem Ende der alten Geschichte.

Es ist an der Zeit, und das sage ich als praktizierender Christ, der den kirchlichen Apparat aus Überzeugung verlassen hat, unseren Koloß von den tönernen Füßen zu stürzen. Betreiben wir den Ausverkauf eines irdischen Reiches, das dem Reich Gottes schon immer im Wege war. Lösen wir die kirchliche Großinstitution auf, die ein schon lange nicht mehr existierendes Kirchenvolk regieren will. Soll zugrunde gehen, was nach der Logik der Geschichte schon lange hätte zugrunde gehen sollen.

Gehen wir mit offenen Augen in die notwendige Krise. Und vielleicht tritt dann ein kleines aber selbstbewußtes Volk Gottes auf den Plan, das wirklich dem Salz der Erde gleicht und nicht dem Skelett einer Leiche.

Das wäre die lange ersehnte Auferstehung des Leibes Christi, die keiner mehr für möglich gehalten hätte.

Wie sagte doch Umberto Eco in seinem Roman „Der Name der Rose“?

„Die einfachen Laien haben etwas, das den hochgelehrten Doktoren, die sich oft in allgemeinen Gesetzen verlieren, abgeht: die Intuition des Individuellen. Aber Intuition allein genügt nicht. Die einfachen Leute fühlen eine Wahrheit, die vielleicht wahrer ist als die Wahrheit der Theologen... Der große Bonaventura sagte, die Gelehrten müßten die Wahrheit, die in den Aktionen der einfachen Leute steckt, zu begrifflicher Klarheit bringen. ...“

 

Zurück zu Texte?