Omniata,
Stand ihrer (seiner) Erforschung
Vor einiger Zeit tauchten im deutschsprachigen Raum Artikel auf, die für ein Lexikon gedacht waren. Sie wurden offenbar für nicht tauglich befunden und trugen daher einen roten Stempel mit der Inschrift „Ausgesondert!“. Dieses an sich unbedeutende Ereignis erregte die Aufmerksamkeit des Lexikologen Werner Bransch, der zu dieser Zeit noch an der Universität Tübingen lehrte. Ihn verwunderte die gediegene Abfassung der Artikel, die sich zudem noch mit höchst entlegenen Wissensgebieten beschäftigten und dabei ein ungewöhnliches Maß an Konzentration und Kompetenz aufwiesen. Er kam zu dem Schluss, dass es sich hierbei um Hinweise auf ein Lexikon-Projekt handeln musste, das seiner Aufmerksamkeit als Wissenschaftler entgangen war. So beauftragte Bransch einen Studenten namens Maximilian Müller, der nicht wusste, worüber er seine Magister-Arbeit schreiben sollte, mit den Nachforschungen. Müllers Recherchen erwiesen sich als schlampig. Er versäumte es beispielsweise, beim Bertelsmann-Verlag nachzufragen. So erhielt er für seine Arbeit gerade noch ein „genügend“, was ihn freilich nicht hinderte, eine Stelle als Deutschlehrer an einem oberfränkischen Gymnasium anzutreten. Die Sache wäre sicher im Sande verlaufen, wenn Bransch nicht just in diesem Jahr in den wohlverdienten Ruhestand getreten wäre. Bei der abschließenden Durchsicht seiner Unterlagen fiel ihm besagte Magister-Arbeit in die Hände. Er blätterte sie noch einmal durch und stieß auf folgende Sätze, die ihn zugleich abstießen und elektrisierten: „Möglicherweise handelt es sich um ein Lexikon gigantischen Ausmaßes namens Omniata. Doch dieses Projekt gibt es nicht.“ Zunächst störte Bransch nichts weiter als die logische Inkonsistenz der beiden Sätze. Eine Sache, die es nicht gibt, kann nicht „möglicherweise“ einen ganz konkreten Namen haben, der zudem noch den bekannt gewordenen ausgesonderten Artikeln einen Sinn zuwies. Schließlich fiel seine Aufmerksamkeit auf die seltsame Wortbildung. Das Wort Omniata erwies sich oberflächlich betrachtet als eine Wortklitterung, die an die üblichen Errata erinnern sollten, die seriöse Wissenschaftler ihren Büchern beigaben, um auf nach dem Druck entdeckte Fehler aufmerksam zu machen, doch machte in diesem Fall das Fehlen eines zugehörigen Verbs die Bildung unmöglich. Doch schien es einen tieferen Zusammenhang zwischen dem Projekt-Namen und den „ausgesonderten Artikeln“ zu geben. Bransch erinnerte sich dunkel, in dem recht abseitigen Werk „De Motionibus Naturalibus a Gravitate Pendentibus“ von ALPHONSI BORELLI eine ähnliche Wortschöpfung gelesen zu haben, mit der freilich selbst gestandene Lateiner ihre Schwierigkeiten hatten: „...magis restrictum expleat; cumque euidentissime corpora omniatum dura, cum fluida ab actione ...“ (Cap. XIII). Ließ man alle Bedenken des Lateiners fallen und suchte nach einer möglichst präzisen Übertragung des Sinnes, so kam man auf ein Wort, das ungefähr lauten müsste: Die „Veralleshabenden“. Mit den Omniata war offensichtlich ein Themenbereich anvisiert, wo „Alles“, das „Eine“ im Sinne der griechischen Philosophie thematisiert werden sollte – und zwar so, dass es im Sinne Paul Tillichs quasi „in jedem Grashalm“ aufschien. Dies war den „ausgesonderten Artikeln“ nicht abzusprechen. Warum aber wurden sie dann nicht in das Lexikon aufgenommen? Bransch war fasziniert und veröffentlichte einen kleinen Aufsatz über das vermutete Projekt. Das Echo unter den Fachkollegen fiel jedoch anders aus, als Bransch es sich gewünscht hatte. Anstatt das Projekt ausfindig zu machen oder wenigstens über seinen Sinn zu streiten, entflammte eine Debatte darüber, was mit dem Worten „gibt es nicht“ gemeint sein könnte. Als erster meldete sich Günter Kuntert zu Wort, der möglicherweise nur auf den Lehrstuhl von Bransch scharf war. Er behauptete, dass die moderne Onthologie mehrere Formen von „gibt es nicht“ kenne und Bransch sich schon entscheiden müsse, was er mit diesen Worten meine. Einmal könne man sagen, das Lexikon sei schlicht nicht vorhanden, dann meine man den Zustand „Null“. Es gebe aber auch die Möglichkeit, dass das Lexikon überhaupt nicht vorhanden sei, was seine prinzipielle Nutzbarkeit jedoch nicht ausschließe. Da diese dunklen Andeutungen einen Sturm an Nachfragen auslösten (was Kuntert wohl auch beabsichtigt hatte), erklärte sich Kuntert in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Lexikologie in Tübingen: Ein Projekt namens Omniata könne schon deshalb nicht existieren, weil die Artikel dazu mehr als nur fehlen. Es sei sozusagen im negativen Bereich anzusiedeln. Kuntert legte dazu eine Statistik vor, in der er nachwies, dass dem Projekt Omniata rund eine Milliarde Artikel fehlten, um erst einmal im landläufigen Sinne nicht vorhanden zu sein, d.h. es müssten zunächst eine Milliarde Texte geschrieben werden, bis das Projekt „auf Null“ gekommen und damit nicht existent sei. Danach seien wiederum rund eine Milliarde Artikel zu schreiben, um das Projekt überhaupt existent zu machen. Dies sei in einem menschheitsgeschichtlich überschaubaren Zeitraum nicht zu leisten. Insofern sei das Projekt Omniata existent und zugleich auch nicht. Widerspruch kam aus Wien. Es ist nicht auszuschließen, das Bransch, der tief in seiner Ehre als Wissenschaftler gekränkt war, ihn bei seinem Freund und Kollegen Karl Luther bestellt hatte. Luther – im Übrigen ein brillanter Rhetoriker – wies anhand der bekannten Artikel nach, dass das Projekt Omniata kurz vor seiner Vollendung stehe. Es fehle nur noch der Milliardste Teil eines Artikels. Diese Behauptung rief nun den norwegischen Statistiker Roald Amundsen auf den Plan (einen Nachfahren des berühmten Polarforschers). Amundsen bewies in einem nur fünfseitigen Memorandum, dass – wenn Luthers Theorie stimmte – der letzte Artikel der Omniata weniger als einen Buchstaben aufweisen müsste, was der Definition eines Lexikon-Artikels widerspräche. Damit könne die Omniata aus mathematischen Gründen nicht erscheinen. Aus diesem Grunde existiere sie auch nicht – aber aus völlig anderen Gründen, als bisher angenommen. Amundsens Anmerkungen eines trockenen Statistikers stürzten die mittlerweile in Gang gekommene Omniata-Forschung in eine tiefe Krise. – Bis sich ein durchgeknallter Historiker aus Berlin in einer Tageszeitung niederen Niveaus zu Wort meldete, der behauptete, das Omniata-Projekt verhindert zu haben. Auf einem eilig in Würzburg einberufenen Kongress der Omniata-Forschung erklärte er seine Methode. Er habe mit Hilfe der in der Werbebranche üblichen Sprache KISS („Keep It Short And Simple“) einige Lexikon-Artikel formuliert. – Die Sprache KISS (für Unkundige) ist darauf angelegt, möglichst wenige Inhalte zu transportieren. Dadurch erhält sie eine hohe Durchschlagskraft gegenüber komplexen Inhalten und zerstört diese. Man hat KISS deshalb bereits als „semantische Atombombe“ bezeichnet. – Mit KISS habe er die logische Struktur des Omniata-Projektes gesprengt. Die meisten Artikel seien damit gewissermaßen atomisiert, also in ihre Buchstaben zerlegt worden. In der Wirklichkeit angekommen seien nur einige Texte, die man als „ausgesondert“ gekennzeichnet habe. „Ausgesondert“ sei in diesem Falle also zu verstehen mit: „Dem Untergang entronnen.“ Als Grund für die Errettung dieser Artikel vor dem Untergang führte er an, dass es bisher keine Sprache gebe, die so blöd formuliert sei, dass sie derartige Aussagen komplett annihilieren könnte. Die Artikel hätten bisher als Paare im positiven und negativen Raum existiert, die in der Summe „Null“ ergeben hätten. Durch den KISS-Beschuss sei das negative Pendant einiger Artikel ausgelöscht worden, wodurch ihr Erscheinen im positiven Bereich bewirkt worden sei. Mit seinem Beschuss habe er folglich zwar das Lexikon zerstört, jedoch damit wenigstens einige Artikel gerettet. Der Berliner Historiker – wir wollen seinen Namen nicht nennen – scheiterte mit seiner Behauptung kläglich. In einer spontanen und von allen begeistert aufgenommenen Entgegnung legte Professor Werner Bransch die Grundlagen der modernen Omniata-Forschung dar. Zunächst erklärte er in einem kleinen Exkurs, dass Buchstaben doch teilbar sind. Die subsemiotische Forschung habe dies bewiesen. Natürlich haben geteilte Buchstaben keinen Sinn im herkömmlichen Sinne. Sie oszillieren um Sinn und Nicht-Sinn. Damit hatte er Amundsen die Argumente genommen, dass ein Lexikon-Artikel nicht existieren könne, der kleiner als ein Buchstabe sei. Er war möglich, wenn auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Nun folgte eine atemberaubende Rede, die wir ihrer historischen Bedeutung wegen wörtlich zitieren: „Meine Damen und Herren! Dieser bedauernswerte Mitmensch aus Berlin hat nun behauptet, das Omniata-Projekt durch Beschuss mit KISS-Artikeln zu Fall gebracht zu haben. Ich frage Sie: Brauchen wir diese Theorie überhaupt, um das seltsame Phänomen der Omniata zu erklären? Und ich will Ihnen die Antwort nicht vorenthalten: Nein, wir brauchen sie nicht. (Beifall) Denn: Wie entsteht ein Lexikon? Meine Damen und Herren! (Vorsitzender: Ich bitte um Ruhe!) Buchstaben haben nun einmal die Neigung, sich zu Klastern zusammenzuschließen. Wir nennen so etwas Worte. In einer günstigen semantischen und semiotischen Umgebung gehen diese Klaster komplexe Verbindungen ein, die aus Subjekt, Prädikat und Objekt bestehen. Mit dem sogenannten Omniata-Projekt erleben wir eigentlich nichts anderes, als das, was auf dieser Welt tausendfach geschieht: Die spontane Entstehung eines Lexikons. Erinnern Sie sich an die Entstehung des Internet-Lexikons Wikipedia! Zehntausende sinnloser Buchstabenkombinationen wurden veröffentlicht, verlinkt, ja und auch ausgesondert! Ein ganz normaler Vorgang also. Wohl wahr! Dieses Omniata existiert nicht. Nein! Es insistiert! Es möchte aus dem Zustand des Potenziellen in den Zustand des Seins übergehen! Die sogenannten „ausgesonderten Artikel“ sind nichts weiter als Hilferufe der Omniata, von der Potenzialität ins Sein zu treten! Helfen wir den Omniata! Schreiben wir sie ins Sein! Und wenn es eine Milliarde Jahre dauert! (Frenetischer Beifall, die Kongressteilnehmer erheben sich von ihren Plätzen.).“ (Anmerkung für Sprachwissenschaftler: Deutlich erkennbar ist hier, wie der Plural „omniata“ langsam zum Eigennamen „das Omniata“ wird.) Nun erhob sich der greise Lexikologe Buertus Feldstein, der in Dresden den Kommunismus überlebt hatte, und entgegnete: „Wie, verehrter Kollege, erklären sie dann die ausgezeichnete Qualität der sogenannten ausgesonderten Artikel? Nein, sie stammen nicht von einem Lexikon im – sagen wir – Embryonalstadium. Nein, das sind Artikel von höchster Reife, wie man sie nur in der 15. bis 20. Auflage eines Lexikons findet. Ich werde Ihnen das erklären. Wann ist ein Lexikon gut? Natürlich dann, wenn es ein in sich geschlossenes Werk ist. Daran aber arbeiten Generationen von Wissenschaftlern. Lesen Sie einfach meine Arbeit über die Querverweise in der Theologischen Realenzyklopädie. Dort können Sie den Prozess nachvollziehen. Erst durch die Querverweise erhält eine Lexikon seinen Wert. Deshalb arbeiten Hunderte von Leuten daran, Querverweise herzustellen, zu begründen und damit die Artikel zu harmonisieren. Das Werk wird damit immer komplexer. Und plötzlich, wenn eine kritische Marke an selbstreferenziellen Bezügen überschritten ist, stellt sich plötzlich Sinn ein. Dieser Sinn ist es, der gepflegt werden will, das in sich geschlossene Bild. Das reife Lexikon wächst nun nicht mehr, sondern strahlt – wie eine Sonne – in immer den gleichen Auflagen. Und dann – wir wissen nicht warum, ist die Substanz verbrannt. Es kommt ein neuer Direktor. Keiner kann das hochkomplexe Bild mehr zusammenhalten. Die Autoren zitieren einander nur noch, um sich zu widersprechen. Man flüchtet sich in die Gigantomanie. Die Zahl der Bände wird Legion. Dies führt aber nur dazu, dass nichts mehr zusammen passt. Was ist das Ende? Ich will es Ihnen sagen: Die letzte Auflage. Genau diesen Fall aber haben wir vor uns: Die Reste eines implodierten Lexikons.“ An dieser Stelle nahm der russische Lexikologe Alexander Bakunin das Wort, der noch in der Sowjetunion über ein unbedeutendes militärhistorisches Nachschlagewerk habilitiert hatte und wohl seine spät-marxistischen Scheuklappen nicht abzulegen vermochte: „Verehrte Kollegen! Lassen wir doch diese idealistischen, postmaterialistischen Spekulationen! (Hört! Hört!) Die Omniata (feminine Form!) muss doch irgendwie zu finden sein – falls sie denn existiert. Ich schlage vor, wir fragen alle Bibliotheken, Buchhändler, Antiquariate, bibliophilen und bibliomanen Spinner, halt einfach alles was es so an Sammelstellen für Bücher gibt. Die russische Regierung erklärt sich bereit, dieses Projekt zu finanzieren.“ Feldstein, der am Rednerpult stehen geblieben war, nahm nun einen väterlich besorgten Ausdruck an und entgegnete: „Lieber, verehrter Kollege Bakunin! Ich zweifle nicht an den Fähigkeiten des russischen Geheimdienstes. Doch Sie sind jung, erst zwanzig Jahre wirklich in diesem Bereich zu Hause. So möchte ich Ihnen zu bedenken geben: Was wissen wir, wenn wir erfahren, dass die Omniata (Plural!) in irgendeiner Burmesischen Bibliothek stehen? Nichts. Tatsächlich nichts. Ein Werk wird doch erst dadurch existent, dass es zitiert wird. Erst die Sekundärliteratur beweist, das ein Buch – ich spreche jetzt ganz präzise – wirk-lich ist. Wirklich ist nur, was wirkt. Und Bücher wirken, indem sie zitiert werden. Wenn überhaupt, sollten wir nach Spuren der Omniata in der Sekundärliteratur suchen. Und – glauben Sie mir – da gibt es nichts. Die Omniata haben einmal existiert. Wir stehen vor den Trümmern. Das einzige, was wir tun können, ist, seine (Maskulinum oder Neutrum!) Spuren zu sichern.“ Bakunin nahm zwar weiter an dem Kongress teil, meldete sich aber auch in den Arbeitsgruppen nicht mehr zu Wort. Bereits ein Jahr später sorgte er allerdings für Aufsehen. Er hatte eine riesige Abfrage gestartet, ob irgendwo die Onmiata als Projekt oder Veröffentlichung bekannt geworden sei. Im Ergebnis hatte er statistisch gesehen auf zehntausend Anfragen (0,1 Promille) eine positive Antwort erhalten. Mittels einer etwas konfusen Berechnung versuchte Bakunin nun nachzuweisen, dass das Ergebnis seiner Abfrage in etwa Kunterts Prognose stützte, dass die Omniata erst erscheinen könnten, wenn die Marke von einer Milliarde Artikeln überschritten sei. Zu diesem Zeitpunkt wurde Bakunin allerdings nicht mehr ernst genommen. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Werner Bransch verstarb nach nur wenigen Jahren. Als Ursache gab der Arzt Frustration an. KISS kam in Mode. Nun wurde es üblich, seriöse Lexika mit dieser Sprache zu bombardieren. Außer einem Lexikon über abwertende sexuelle Begriffe in sorbischer Sprache (Johannes Krailik) hat kein Werk diese Angriffe überlebt. Sie wurden atomisiert, neu formuliert und wikipedisiert. Als einzige fossile Zeugnisse komplexer Darstellung bleiben uns die „ausgesonderten Artikel“ erhalten. Irgendwann wird die europäische Zivilisation aus ihrem Wahn erwachen. Dann mögen die „ausgesonderten Artikel“ ihren Neuanfang befördern. Die Welt ist kompliziert. Wer sie einfach sehen will, wird sie so sehen, aber er wird auf die Schnauze fallen. Dieser Langzeiteffekt wird zur Zeit von einem Forschungsprojekt untersucht, dass die „potenziellen Module medienwirksamer Sprache“ (POMMES) nutzt. Zusammen mit MAJO (Matrix Jorgenensis) wird es POMMES schaffen, die ursprüngliche Komplexität des Abendlandes wieder herzustellen. Dafür bitten wir Sie um – auch Ihre finanzielle – Unterstützung. Nehmen Sie mit uns Kontakt auf: Ihr Omniata-Team. (Im Auftrag von: POMMES mit MAJO GmbH) Christian Sachse, Berlin 2008 |