Christian
Sachse
Sie
hatte sich nicht angemeldet.
„Ich
wollte nur mal sehen,“ sagte sie, „wie mein Vater aussieht.“
Diese
klaren grünen Augen, die ich in meiner Jugend auch gehabt hatte. Jetzt sind sie
eher trüb. Dann diese Falten über den Augenlidern, die besonders dann lästig
werden, wenn man müde wird. Sie behindern die Sicht. Ich war sofort davon
überzeugt, dass sie die Wahrheit sprach. Trotzdem wollte ich noch einen Test
machen. Ich gab ihr eine Zigarette.
„Stecken
Sie sich das Ding quer unter die Nase und halten Sie es mit der Oberlippe
fest.“
Sie
tat es mit Leichtigkeit, ohne nach einem Warum oder Wieso zu fragen. Damit
waren neunzig Prozent aller Väter ausgeschlossen. Ich war allerdings sowieso
schon sicher.
Nun
war der Zeitpunkt da, zum Du überzuwechseln. Trotzdem fragte ich: „Was macht
Sie da so sicher?“
„Sie
hatten vor zwanzig Jahren eine Freundin...“ begann sie.
Das
war schon ein Grund, sie zu unterbrechen. „Oh“, sagte ich. „Eine Freundin?“
Alle drei Worte betonte ich einzeln, mit sorgfältig gewählten Nuancen.
Sie
ließ sich nicht irritieren: „Sie hat mir alles erzählt.“
Im
Alter von siebzig Jahren driftet man leicht ab. Was war „alles“? Wer war „sie“?
Ich
muss, zumindest aus heutiger Perspektive, ein junger Mann gewesen sein. Ein
Buch kam mir ins Gesichtsfeld, das ich damals geschrieben haben musste, ein albernes
Gerichtsverfahren, das mir eine Reihe falscher Freunde bescherte. Mein Verstand
arbeitet auch heute noch hell und klar. Ich wusste sofort, wer „sie“ war. Was
„alles“ war, konnte ich allerdings nicht einmal im Ansatz erahnen. „Alles“ sagt
man nur, wenn man sich auf den Tod vorbereitet.
„Ist
sie krank?“ fragte ich.
Sie
antwortete mit einer eigentümlichen Gegenfrage: „Wer?“
Diese
merkwürdige Symbiose aus klarem, analytischem Blick und egozentrischem
Nicht-Verstehen-Wollen. Ich hatte also eine Tochter. Besser: Noch eine. Neben
der, die lebte und neben der, die tot war. Und neben einem Sohn. Also eher eine
quantitative Bereicherung.
Als
mein Sohn geboren wurde, ging ich vor Aufregung ins Kino. Die erste Tochter
wurde zehn Tage nach ihrer Geburt begraben. Ich weiß die Stelle auf dem Friedhof
nicht mehr. Bei der Geburt meiner zweiten Tochter war ich dabei. Die Erinnerung
an ihren ersten Atemzug jagt mir noch heute Schauer über den Rücken.
„Was
wollen Sie?“ fragte ich ungewollt barsch.
Sie
ließ sich nicht einschüchtern, sah mich an, ohne zu antworten. Dieser Blick.
Die Zigarette hatte sie inzwischen wieder abgelegt. Ich starrte, das wusste ich
genau, in einen Teil meiner Vergangenheit.
Jetzt
rauchte sie diese Zigarette. Wie sie die Hand dabei hielt! Ja, sicher, ich war
bei ihrer Zeugung dabei. Es regnete. Die Kerze flackerte. Qualm und Qualm vereinigten
sich. Wer sieht den Frauen ins Herz? Sie verließ mich – und heute sitzt meine
Tochter vor mir.
Dieses
grün. Ihre Mutter hatte bunte Augen, von braun über grün bis zum gelb. Ein
tanzender Herbst auf fünfzehn Quadratmillimetern.
„Haben
Sie Schwestern?“ fragte ich vorsichtshalber. Eine hatte blaue, die andere
schwarze Augen.
Sie
blickte mich an. Dieser helle, wache Blick. Als hätte sie meine Farbenlehre
innerlich nachvollzogen, sagte sie schließlich: „Ich gehe dann wohl besser.“
Das war aber eher eine Frage, auf die ich keine Antwort wusste.
„Ja“,
sagte ich – und meine lebende und meine tote Tochter gingen mir durch den Sinn.
Wenn man alt ist, schweift man leicht ab.
Kann
man ihn festhalten, diesen Besuch aus der Vergangenheit? Und wozu?
„Wollen
Sie einen Kaffee?“ fragte ich. Sie sah mich an.
„Das
ist aber eine lange Geschichte.“
Die
Geschichte interessierte sie nicht. Und sie ging.
Den
Blick habe ich im Gedächtnis. Aber wem nutzt das?
Berlin 2007