Petrows Katze
Ja, kennengelernt habe ich Petrow eigentlich nie, nur halb - wenn man so sagen darf. Es heißt, Sacharow hätte das junge Genie eines Tages aus seinem Team ausgeschlossen, weil Petrow einige Ideen entwickelt hatte, die seine Wasserstoffbombe um ein Vielfaches übertroffen hätten. Sacharow hatte sich bekanntlich nach der Zündung seiner Bombe zum schärfsten Kritiker seiner eigenen Erfindung entwickelt. Insofern neige ich schon dazu, jener Legende Glauben zu schenken, die sich um Petrow rankt. Sacharow, so heißt es, hätte sich einen Nachmittag lang in seine Datsche zurückgezogen, um die Berechnungen seines jungen Kollegen nachzuvollziehen. Als er zurückkehrte, so wollen einige beobachtet haben, sei er nicht mehr derselbe gewesen. Umgehend habe er Petrow zu einem Waldspaziergang eingeladen. Das machen die Russen immer so, wenn sie etwas besprechen wollen, was der Weltgeschichte einen neuen Lauf gibt. Deshalb glaube ich schon, dass es so war. Petrow habe am nächsten Tag gekündigt und eine Stelle am Institut für Mechanisierung im 11. Bezirk angenommen. Seine Erfindung, mit der man von einer Sekunde zur anderen einen ganzen Kontinent verdampfen konnte, blieb auf dem Papier zurück. Sie liegt noch heute im Archiv der Akademie der physikalischen Wissenschaften der Sowjetunion. Gebe Gott, dass sie niemand findet.
Auf diesem Hintergrund ist auch der merkwürdige Satz zu verstehen, den ich von Petrow beim Mittagessen in einer gottverlassenen russischen Stadt anlässlich eines Weiterbildungsseminars für Didaktik der Physik zu hören bekam. Er sah mich nur kurz an, als ob er abschätzen wollte, ob ich die Nachricht wert war, die er zu vermitteln hatte und murmelte dann in seinen Bart, der eines Starschen würdig gewesen wäre: "Mein Gott! Alle überlegen immer, wie man das Paradoxon von Schrödingers Katze verstehen kann. Die Dümmsten unter ihnen versuchen, Schrödinger zu verstehen. Bei denen ist Hopfen und Malz verloren. Aber unter den Klügeren muss doch einer sein, der bemerkt, dass wir selbst Schrödingers Katze sind." Ich sah mich spontan in einem Schränkchen sitzen, neben mir die tödliche Ampulle mit dem Gift. Über mir tickte die berechenbare Atomuhr und lieferte mich dem Zufall aus. Eine äußerst unangenehme Empfindung. Petrow sah mich gequält an und lächelte etwas schief, als hätte er meine Gedanken erraten: "Nein, nein, der erste Gedanke ist meist der falsche. Zumindest wenn es um etwas grundlegend Neues geht. Unser Gehirn versucht, uns eine der vielen Lösungen aufzuschwatzen, die es in den Jahrtausenden vor uns entwickelt hat. Sie sind aber in diesem Falle alle falsch." Er stand auf, drehte sich nur noch einmal halb um und murmelte, wie um mir gegen seinen eigenen Willen noch eine Chance zu geben: "Denken Sie darüber nach, mein Lieber."
Tatsächlich ist es so, dass unser Gehirn die wunderbare Eigenschaft besitzt, die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Der Gedanke, keimt, man braucht sich kaum darum zu kümmern. Etwas Licht, etwas Wasser - und eines Tages steht er vor dir. So war es auch in diesem Fall. Petrow hatte im Alter von nur 19 Jahren die berühmte P1-Matrix entwickelt. Niemand weiß heute noch, dass das P für Petrow steht und dass er es im ersten Anlauf schaffte. Damals war es noch um die Kernspaltung gegangen. Es ging, etwas vereinfacht gesagt, darum, einen Koeffizienten zu entwickeln, der die statistische Streuung einer bestimmten Sorte von Uran-Isotopen in einem beliebigen Material maß. Petrow wäre allerdings nicht Petrow gewesen, wenn er nicht auch dafür eine ungeheuer originelle Lösung gefunden hätte. Diese bestand, kurz gesagt, darin, die Matrix in das Einstein'sche Raum-Zeit-Kontinuum zu verlegen. Insofern ließ sich die Wechselwirkung beim Neutronenbeschuss mit einer Klarheit berechnen, die es möglich machte, eine Atombombe in einer Aktentasche unterzubringen. Ich habe später die P1-Matrix spaßeshalber einmal dazu benutzt, um die Verteilung von bewohnten Planeten im Weltall zu berechnen. Das Ergebnis war einerseits ermutigend, andererseits ernüchternd. Tatsächlich dürfte es eine von Null verschiedene Zahl derartiger Planeten geben. Jedoch ist der raum-zeitliche Abstand unter ihnen so groß, dass sich eine Kommunikation zwischen zwei Welten innerhalb einer evolutionären Phase nicht anbahnen lässt. Doch das nur am Rande - obwohl es dazugehört.
Auf der Ebene der Elementarteilchen war die Sache, hatte man sie erst einmal verstanden, recht einfach. Voraussetzung für die Kausalität ist die kontinuierlich verlaufende Zeit. Zwischen Ursache und Wirkung passt kein My. Alles gehorcht den reinen Gesetzen der Mathematik, die - sieht man einmal von einer solch schmutzigen Wissenschaft wie der Statistik ab - keinen Zufall kennt. Petrow nun hatte entdeckt, dass die Zeit in den subatomaren Räumen gewissermaßen zu stottern anfängt, sich aufteilt, verzweigt oder Inseln bildet, die sich wiederum vereinigen können. Petrow, mit dem ich inzwischen hin und wieder telefonierte, hat mir das so erklärt: "Stellen Sie sich vor, die Ursache sei eine Lokomotive, die Wirkung ein Zug, mit dem sie zusammenstoßen wird. Das Gleis aber ist die Zeit. Nun ist aber kein Zug in Sicht. Was passiert? Das Gleis dehnt sich vor der Lokomotive immer weiter aus, zugleich vergeht die Zeit immer schneller. Der Lokomotivführer wird also nichts bemerken. ER hat vielmehr den Eindruck, mit konstanter Geschwindigkeit dahinzufahren. Kommt aber zufällig ein anderes Gleis vorbei, auf dem ein Zug steht, dreht sich die Zeit in rasender Geschwindigkeit, das Gleis verkürzt sich immer schneller - und es kracht. Das Verrückte dabei ist: Das Kausalitätsgesetz wird nicht verletzt, obwohl es sich um einen puren Zufall handelt."
Einmal in einem Herbst rief mich Petrow von sich aus an. Das tat er sonst nie, vermutlich aus Kostengründen. Seine Mitteilung war trocken und eines Physikers würdig: "Sehen Sie, mein Lieber, ich werde in den nächsten Wochen sterben." Es gelang mir tatsächlich nicht, ob der Mitteilung die Kontenance zu wahren, so sprudelte es aus mir heraus, die Wissenschaft werde ihn vermissen, ich hätte seine P1-Matrix auf die Galaxie angewendet - und ähnlicher Unsinn, den man schwätzt, wenn man emotional überfordert ist. Noch mitten im Reden überfiel mich die Erkenntnis, dass es wohl besser wäre, die Wissenschaft würde Petrow nicht vermissen, weil sie von seiner Entdeckung zur Beschleunigung der Wasserstoffbombe nichts wusste, obwohl sie existierte. Ich weiß nicht, wie es mir gelang, diesen überaus komplizierten Gedanken doch noch an Petrow weiterzugeben. Doch der hatte offensichtlich das Problem theoretisch längst durchdrungen. Er sagte nur trocken: "Genau das habe ich damit gemeint, als ich sagte, dass wir selbst Schrödingers Katze sind." Er war mir eben immer noch um Lichtjahre voraus.
Wenn ich heute nun in meinem vorgerückten Alter manchmal in den gestirnten Himmel über mir blicke, kommt mir Petrow wieder in den Sinn. Richtig habe ich immer noch nicht verstanden, worum es ihm ging. Trotzdem überfällt mich manchmal die Ahnung, dass er damit den Ansatz für eine neue Ontologie geliefert hat. Wir gehen entsprechend unseren praktischen Sinnen immer davon aus, dass die Welt ist. Wie wäre es aber, wenn das gesamte Weltall nicht existierte wie eine Eins? Wenn dieses luftige und zerbrechliche Gebilde irgendwo zwischen Null und Eins oszillierte? Wenn die menschliche Existenz eben nicht darin bestünde, erst weg zu sein, dann da zu sein, um wieder weg zu sein? Wenn der Mensch, das Wunder der Schöpfung, es irgendwie fertig gebracht hätte, sich einen Raum zwischen Sein und Nicht-Sein zu erobern - und zwar aus purem Zufall jenseits aller Wahrscheinlichkeiten, deren Nullen nach dem Komma man kaum noch zählen kann, bevor die erlösende Eins kommt? Fragil und frei zugleich, mitten im Medio-Kosmos mit seinen strengen Kausalitäten? Wäre das nicht ein Wunder, das mit äußerster Ehrfurcht zu betrachten ist? Ich denke, Petrow hatte die Lösung gefunden. Er hat sie mit ins Grab genommen.
Christian Sachse, Berlin 2013
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