Der Hinweiser
Bernd-Alwin Schlooßer war es müde, hinzuweisen. Ja, ganz ohne Objekt
oder gar weiterführenden Nebensatz. Allein der Gedanke daran versetzte ihn in
einen Zustand schwer zu verbergender Dauergereiztheit, wie sie in hohen
Dienstjahren stehende Gymnasiallehrer wohl
ausstrahlen. Eben noch hatte er den von der Redaktion „Mutter der
Sprache – Sprache der Mutter“ lange erwarteten Essay über den Missbrauch des Futur II in den Briefkasten geworfen. Das sich hernach
einstellende Gefühl der inneren Leere kannte er bereits von früheren Arbeiten.
Insofern hatte er sich darauf eingestellt. Zu Hause wartete eine Flasche guten
Rotweins, ja eben, und nur ein Glas dazu. Der Plan war gewesen, sich mit diesem
Essay auf subtile Weise von seiner Geliebten zu verabschieden. Er schien zunächst
auch aufgegangen. Bernd-Alwin hatte sich, selbstverständlich in Vermeidung
jedes auch nur annähernd deanonymisierenden
Hinweises, mit ziemlich drastischen Worten über deren immer wiederkehrende
Vermischungen des Futur II mit dem hypothetischen Konjunktiv lustig gemacht:
„Was wird sein, wenn wir ein Kind hätten?“ Es war nicht zu erwarten, dass
Ernestine diesen Essay las. Und wenn sie ihn lesen würde, stand nicht zu
befürchten, dass sie ihn verstünde. Statt das Gefühl genießen zu können, sich
nun von dieser hypothetisch-futuristischen Melange in Form einer Frau freigeschrieben
zu haben, überfiel Bernd-Alwin auf dem Nachhauseweg die entfernt nebelhafte
Erkenntnis, verhindert zu haben, dass aus einer Möglichkeit der Zukunft eine
Realität in der Gegenwart werden würde. Kurz: Er hatte sich um etwas gebracht,
von dem er bis zu diesem Augenblick nicht im Entferntesten geahnt hatte, dass
er es vermissen würde. Dem spontanen Gedanken, den Umschlag wieder aus dem
Briefkasten zu fischen, widerstand Alwin. Er war ein Mann der Tat und konnte mit
den Folgen dessen, was er getan hatte, leben. Der Gedanke wiederum, mit den
Folgen seiner Tat, deren Ungeheuerlichkeit erst langsam in ihm aufzuscheinen
begann, die restlichen Jahre seines Lebens verbringen zu müssen, ließen ihn
frösteln. Den Mantelkragen hochschlagend, nicht achtend der
spätnachmittäglichen Frühlingssonne eilte Bernd-Alwin nach Hause, um seinem
Leben auf die eine oder andere Weise ein Ende zu bereiten.
Der Rotwein war etwas zu kühl
geraten. Die Sorte schien für einen solchen Anlass auch eine Spur zu lieblich.
Doch derartige kleine Hinterhältigkeiten, die das
Leben in solchen Situationen aufzubieten hatte, ignorierte Bernd-Alwin Schlooßer bereits seit vielen Jahren souverän. Das hatte
damit begonnen, dass Bernd-Alwin sich in einem brachialen Willensakt dazu
entschlossen hatte, bei einem Blick in das Gesicht Ernestines nicht mehr auf
Grund dessen namenloser Hässlichkeit in eine präspasmatische Verkrampfung zu
verfallen. Er hatte „Schatz“ zu sagen gelernt und verschloss die Ohren, wenn er
mit ihr sprach. Diese Gedanken, so fand Bernd-Alwin, der sich bereits in den
schmalen Erker seines Wohnzimmers zurückgezogen, aber vom Weine noch nichts genommen
hatte, klangen bereits sehr nach einem Resümee. Der Schluss, sich selbst zu
entleiben, so fand er, lag also offenbar auch seinem Unterbewusstsein nahe. Der
nächste Schritt würde ein Abschiedsbrief sein müssen, schon um mögliche
nachfolgende Verwicklungen Ernestines in einen Mordverdacht zu vermeiden. Denn
Ernestine, so überfiel Bernd-Alwin, der nun doch begonnen hatte, am Wein zu
nippen, plötzlich paradox ein belustigendes Gefühl, war zwar hässlich wie die
Nacht, aber… aber warmherzig war sie schon. Sie dafür nachträglich zu
bestrafen, war nicht opportun. Im Grunde war es sogar erstaunlich, dass sie
ihm, dem verkrochenen Kauz, Liebhaber des frühen Wieland, die Ehre der
Zuwendung erwiesen hatte: „Selbst das Horazische Tibur mit seinen Traubengebyrgen/Ohne
dich, waeren mir oede; an
deinem umschlingenden Arme/Wird mir die Wyste beblymt und ergoetzend, dann saeuselt der Sturmwind,/Und die ganze Natur, die Luft, das bloede Gefilde, /Sieht dir, von deinen Blicken verschoenert, mit Anmut entgegen.“ Hatte Ernestine,
erinnerte sich Alwin an einen alten Verdacht, überhaupt verstanden, worum es Wieland
ging? Oder hatte sie sich einfach nur an der Melodie seiner Sprache berauscht,
so dass sie sich beide unversehens im Bett wiedergefunden? Nun gut, dachte es
in Alwin plötzlich in einem belustigten Grimm, dann klären wir die Sache eben
noch auf. Sicher würde es Ernestine damit auch leichter fallen, seinen Tod zu
überstehen. Er würde Ernestine darauf hinweisen müssen… Und da war es wieder,
das Gefühl der Gereiztheit. Ihm war in dieser unsäglichen Beziehung eben die
Aufgabe des Hinweisers zugefallen. Tagtäglich ergaben
sich andere Notwendigkeiten, Ernestine auf etwas hinzuweisen. Da war dieser
alberne Neo-Renaissance-Bau in der Schlüterstraße, der aber in einem der Erker
ein fast gottlos wirkendes Zitat aus dem Jugendstil enthielt. Ernestine war an diesem
kleinen Meiserwerk der Ironie seit Jahren achtlos vorbeigegangen. Als er dann
irgendwann eine gewisse Routine in ihren fragenden Schülerinnenaugen entdeckte,
wurde Bernd-Alwin klar, dass sie eigentlich nur ihm zuliebe zuhörte, dass sie
nicht interessierte, was er sagte, sondern nur genoss, wie er es sagte (siehe
Wieland). In dieser Weise, so hatte er gedacht, wolle er sich nicht missbrauchen
lassen. Und schwieg fortan. Natürlich nur, bis sie auf den Trick verfiel, ihn
mit ausgesprochen dämlichen Fragen zu neuen Hinweisen zu animieren. Das war aber
so leicht durchschaubar, dass sie nunmehr viele Stunden schweigend miteinander
verbrachten. Das hatte merkwürdiger Weise zur Folge gehabt, dass ihre
Begegnungen im Bett mehr und mehr den eckigen Bewegungen von Tanzschülern
glichen. Wohl aus diesem Grunde war Ernestine darauf verfallen, ein Kind von
ihm haben zu wollen. Sie äußerte den Wunsch nie direkt, sondern immer wieder in
dieser vermaledeiten Sprachkonstruktion, die so fiel Bernd-Alwin Schlooßer nach dem vierten Glas Rotwein auf, einen geheimen
Sinn transportierte, den er bisher nicht zu entschlüsseln gewagt hatte. In
einem kühnen Sprung, der freilich auch schon etwas vom Wein befeuert war,
wandte er die Konstruktion auf seine eigene ausweglos erscheinende Situation
an:
„Wie wird es sein, wenn ich tot wäre?“ Das hatte
was von Schroedingers Katze. Er würde nicht ganz tot
sein, aber irgendwie auch nicht mehr wirklich unter den Lebenden weilen. Ein eigentümlicher
Zustand der Schwebe, welcher einem seiner geheimsten Wünsche verhieß,
Wirklichkeit zu werden. Diese zwittrige Zukunft erlaubte es ihm, als Beobachter
an seiner eigenen Beerdigung teilzunehmen, allerdings nur jetzt und hier, aus
der Gegenwart die möglichen Zukünfte betrachtend, ja
und spielerisch vermengend. Bernd-Alwin weidete sich eine Weile an Ernestines
verheultem Gesicht. Er schätzte den Preis ihres schwarzen Kleides und sah ihre
kleine Hand, wie sie zitternd seinem Sarg ein paar letzte Blütenblätter entgegentaumeln
ließ. Leider ließ seine Ergriffenheit bei der vierten oder fünften Wiederholung
nach, so dass er nach stärkeren Mitteln suchen musste. Da verfiel er auf die
Idee, Ernestines Traum vom Kind und seinen Traum vom Tod zu verknüpfen. Die
schwangere Ernestine auf seiner Beerdigung wäre sozusagen das Nonplusultra
einer dreifachen Zukunft: Damit wäre er
tot, würde an seiner eigenen Beerdigung teilhaben, zugleich aber in seinem Kinde
weiterleben.
Im Umkehrschluss würde das
allerdings bedeuten, so fuhr es ihm plötzlich siedend heiß ins Gehirn, dass die
reale Ernestine bereits mit seinem Tode rechnete. Sicher saß sie gerade auf
ihrem Bett, in Gedanken bereits schwanger, sich in ihrer doppelten Existenz an
seinem frühen Tod weidend. Und den Gefallen wollte er ihr dann doch nicht tun. Bernd-Alwin
Schlooßer, nun schon leicht schwankend, erhob sich
vom Stuhl, umkreiste den verwaisten Esstisch und griff zum Telefonhörer. Nur noch
einmal wollte er sie darauf hinweisen, dass…
April 2013