Die
Wiener, die Mathematik und der Mauerbau Christian
Sachse Johannes
Paul Fürstling war 42 Jahre alt, als er im Februar 1959 von Walter Ulbricht
persönlich per Kurier den höchst geheimen Auftrag erhielt, die Höhe der zu
bauenden Berliner Mauer mit den Mitteln der modernen Physik zu errechnen. Was
Johannes Paul Fürstling nicht wissen konnte, war, dass es zuvor im
Zentralkomitee der SED in Ost-Berlin eine harsche Auseinandersetzung gegeben
hatte, in deren Verlauf Kurt Hager den Parteichef aufgefordert hatte, die
Potenzen der modernen Physik einmal an einem beliebigen Gegenstand austesten zu
lassen. Andererseits war Paul Fürstling dem ZK auch nicht völlig unbekannt. Wie
es dazu kam, ist eine längere Geschichte. Sie soll nur in dem Umfange erzählt
werden, wie sie für den Verlauf der weiteren Ereignisse von Belang ist. Fürstling
hatte in der Schweiz Physik studiert. Er war geborener Schweizer, fühlte sich
aber in seinem Heimatland nicht so recht wohl, weshalb er nach Wien wechselte.
An einem physikalischen Institut, dessen Namen wir nicht nennen dürfen, war er
für die Eichung kleiner Elektromagneten zuständig, die, in sonderbaren
Konfigurationen angeordnet, der Erforschung irgendwelcher energetischer Effekte
dienen sollten. Fürstling erledigte seine Arbeit gewissenhaft, konnte aber zu
seinen Kollegen kein näheres Verhältnis finden. Als er eines Tages entdeckte,
dass sie ihn wegen einiger unauffälliger körperlicher Besonderheiten unter sich
„Würstling“ zu nennen pflegten, trat er erbost der Österreichischen Kommunistischen
Partei bei, wo man ihm geflissentlich versicherte, dass unter Kommunisten
derlei Diskriminierungen nicht üblich seien. Fürstling wählte den Parteinamen
„Tarzan“ und wurde gelegentlich zu Kurierfahrten nach Bratislava eingesetzt.
Die meiste Zeit verbrachte er allerdings mit Sitzungen der roten Zelle
„Nordwest“, die der Logik der Konspiration folgend irgendwo im Südosten Wiens
zusammentrat. Die Zelle setzte sich vorwiegend aus kommunistisch gesinnten
Buchhaltern zusammen. Der zuständige Gebietssekretär der KPÖ meinte vermutlich,
dass sich Menschen, die mit Zahlen zu tun hatten, automatisch gut verstehen
müssten. Dieser
Gebietssekretär nun erteilte Fürstling 1951 den Parteiauftrag, mit einem
gewissen Wiener Mathematiker mit Vornamen Norbert Kontakt aufzunehmen und
dessen feindliche Absichten gegen die Sowjetunion aufzuklären. Fürstling
erklärte sich außerstande, diesen Mathematiker ausfindig zu machen. Nach
mehrfachen Rückfragen in Moskau stellte sich heraus, dass ein Codierungsfehler
vorlag. Es handelte sich nicht um den Wiener Mathematiker Norbert, sondern um
den Mathematiker Norbert Wiener, der freilich irgendwo zwischen den USA, Asien
und Westeuropa pendelte. Fürstling,
den der Ehrgeiz gepackt hatte, mit dem berühmten Kybernetiker und Philosophen
in Kontakt zu kommen, entwarf in aller Eile eine Theorie, die irgendwo zwischen
Kybernetik und Elementarteilchen-Physik angesiedelt war. Darin behauptete er,
dass Elementarteilchen grundsätzlich nur in Form von kommunizierenden Gruppen
(Aggregaten) auftreten würden, von denen jeweils eines auf Grund seiner
ausgezeichneten Eigenschaften die Führungsposition übernähme. Ehe er die Arbeit
an Norbert Wiener schicken durfte, musste sie allerdings vom sowjetischen
Geheimdienst KGB auf ihre Tauglichkeit überprüft werden. Dieser legte die
Arbeit einem Physiker seines Vertrauens vor, der sie umgehend unter eigenem
Namen veröffentlichte. Die Aggregat-Theorie beweise, so schrieb er, dass die
Diktatur der Arbeiterklasse bereits auf der Ebene der Elementarteilchen angelegt
sei, was als historischer Beleg für die von Friedrich Engels vorhergesagte
Allgemeingültigkeit der Gesetze der Dialektik in Natur und Gesellschaft zu
werten sei. Fürstling erfuhr über eine abfällige Bemerkung Ernst Kohlmanns, der
von dieser Theorie gar nichts hielt, von dem Ideenklau und wandte sich an
Stalin persönlich. Als Beleg für seine wissenschaftlichen Kompetenzen legte er
seinem Protestbrief eine kleine Ausführung bei, die sich damit beschäftigte,
ethnische Konflikte in Energie zu verwandeln. Dem Hörensagen nach hat Stalin
die Untersuchung „Über die Verstromung ethnischer Konflikte in der Sowjetunion“
mit Interesse bis zu einem Punkt höchstselbst gelesen und mit Anmerkungen
versehen. Leider unterlief Fürstling ein unverzeihlicher politischer Fehler. Er
hatte das Energie-Potenzial des ethnischen Konfliktes in Nagorny-Karabach mit
rund 12 Gigawatt taxiert, während er für den innergeorgischen Konflikt
lediglich rund 8,53 Gigawatt angab. Das erboste den Diktator, der ja Georgier
war, dermaßen, dass er an den Rand schrieb: „Sofort verführen und enthaften.“
Der Chef des sowjetischen Geheimdienstes verstand die verklausulierte
Aufforderung sofort, und so wurde Fürstling durch ein Geheimdienstkommando des
KGB aus Wien entführt und in ein sowjetisches Arbeitslager verbracht. Im
Gegensatz zu anderen Insassen wurde er dort anständig behandelt und mit der
Aufgabe betraut, die Stromzähler der Lager abzulesen und zu warten. Dies
wiederum brachte ihn in Kontakt mit einem ostdeutschen Mathematiker, der den
wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kommunismus für das Jahr 1989/1990
vorausgesagt hatte und deshalb wegen staatsfeindlicher Hetze zu 25 Jahren
Lagerhaft verurteilt worden war. Beide
Wissenschaftler wurden im Sommer des Jahres 1956 rehabilitiert, erhielten
jedoch lebenslanges Berufsverbot und hatten über ihren Lageraufenthalt
Stillschweigen zu bewahren. Fürstling,
der leidlich zeichnen konnte, nahm eine Stellung bei einem ostdeutschen
Schulbuch-Verlag an und illustrierte fortan Mathematikaufgaben. – Bis, ja bis
Walter Ulbricht sich an ihn erinnerte. Ulbricht kannte Fürstling aus mehreren
Geheimberichten, die ihm aus Wien zugegangen waren. Der Grund dafür ist ganz
simpel. Das Wiener Institut, in dem Fürstling mühsam die Magneten eingerichtet
hatte, war eine Dependance der Hauptverwaltung Aufklärung gewesen, das sich nur
zum Schein mit physikalischen Forschungen und hauptsächlich mit Spionage
beschäftigt hatte. Fürstling wiederum war als Agent eines befreundeten
Geheimdienstes angesehen und deshalb mit Vorsicht behandelt worden, was
wiederum die distanzierte Haltung seiner damaligen Kollegen erklärt. Fürstling,
vor die Aufgabe gestellt, die Höhe der Berliner Mauer mit den Mitteln der
modernen Physik zu berechnen, versteifte sich - inzwischen durch die
Erfahrungen als sozialistischer Buchillustrator gereift – nicht darauf, mit
eindeutigen Zahlen und Formeln aufzuwarten. Statt auf die penible Diskussion
eines Integrals legte er Wert auf eine bildhafte und politisch korrekte
Sprache, die letztlich das Gleiche leistete. (Im
Folgenden referieren wir den Text nebst den Anmerkungen Walter Ulbrichts mit
roter Tinte, die wir in Klammern setzen.) An
den Anfang seiner Denkschrift setzte Fürstling nur einige nebulöse Hinweise auf
die Thermodynamik, nach der ein homogenes Gas durchaus als Analogie für die
Bevölkerung der DDR gelten könne. Man könne, so schrieb er, die Bürger der DDR
als kleine Teilchen eines Gases betrachten, die sich in einer regellosen
Bewegung befänden. (Ulbricht: Volk ohne Führung.) Ohne erkennbare Ursache
erhielten einige wenige Teilchen genügend Energie, das Behältnis zu verlassen.
(Ulbricht: Falsch! Ursache: Klassenfeind!) Erhöhte man nun den Druck, so würde
rein statistisch gesehen, eine größere Anzahl der Teilchen die nötige
Fluchtgeschwindigkeit erreichen. (Ulbricht: Kollektivierung nicht stoppen!) Es
sei allerdings nicht vorauszusagen, welches Teilchen konkret die Fluchtenergie
aufbringen würde. (Ulbricht: Mielke fragen.) Wie sich aus den Berechnungen
ergebe, könne die Flucht aus der DDR vollständig nur durch eine unendlich hohe
Mauer gestoppt werden. Zwar zweifle er, Fürstling, keinen Moment daran, dass es
dem Zentralkomitee unter Führung der ruhmreichen Sowjetunion gelingen werde,
auch eine unendlich hohe Mauer zu bauen (Ulbricht: Falsch. Erst im Kommunismus
möglich.), jedoch empfehle sich eine solch hohe Mauer aus diplomatischen
Gründen der internationalen Anerkennung der DDR als souveräner Staat nicht. Man
könne das Problem genauer angehen, wenn man es einmal von der anderen Seite
betrachte. (Ulbricht: parteilicher Standpunkt??) Wenn die Mauer einen Wert von
Null habe, das heißt, gar nicht existiere, könnten alle Teilchen, respektive
DDR-Bürger in den Westen fliehen. Das sei sicherlich nicht wünschenswert. Eine
Mauer von, sagen wir, drei Zentimetern Höhe, würde nur sehr ungeschickte Leute
zurückhalten. Sie müssten zudem so unglücklich stolpern, dass sie ohne Probleme
gefasst werden könnten. Erhöhte man die Mauer auf etwa 24 Zentimeter, bildete
sie bereits ein unüberwindliches Hindernis für Rollstuhlfahrer. Auch diese
Lösung sei noch nicht praktikabel, denn eine Republik der Rollstuhlfahrer sei
sicherlich kaum in der Lage, dem Klassenfeind erfolgreich die Stirn zu bieten.
Die Beispiele wiesen aber auf eine Gesetzmäßigkeit hin: Je höher man die Mauer
baue, desto weniger Menschen könnten sie zwar überwinden, dabei handelte es
sich aber dann um die aktivsten und intelligentesten ihrer Art. (Ulbricht:
Brauchen wir nicht.) Bei einer Höhe von – sagen wir – zweihundert Kilometern,
wäre das nur Kosmonauten möglich, die die ruhmreiche Sowjetunion demnächst ins
All schicken wird. (Ulbricht: Was die Freunde machen, ist ihre Sache.) Hinweisen
wolle er noch auf ein Phänomen, dass zur Zeit unter Physikern unter dem Namen
„Tunneleffekt“ diskutiert werde, nämlich, dass ein Teilchen für einen fast
unendlich kleinen Moment eine fast unendliche Energie auf sich versammle und
damit in der Lage sei, fast jedes beliebige Hindernis zu überwinden. Es könne
also – rein statistisch – passieren, dass sich ein DDR-Bürger plötzlich im
Westen befinde, ohne dass es eine messbare Ursache dafür gebe. (Ulbricht: Mit
Mielke über Tunnel sprechen.) Er
– Fürstling – rate nach eigenen Berechnungen zu einer Höhe von zirka vier
Metern. Dies habe etwa zwei erfolgreiche Fluchten pro Jahr zur Folge, die er für
verkraftbar halte. Ulbricht
schrieb unter den Text: „Honecker ansprechen, Mauerhöhe 4 Meter. Auf Tunnel
aufpassen. F. bis Tag X festsetzen. Seine Physik ist Quatsch.“ So
kam es, dass Johannes Paul Fürstling im März 1959 nochmals verhaftet wurde. Er
verbrachte die Zeit bis zum 13. August 1961 zusammen mit seinem ehemaligen
Mithäftling, dem ostdeutschen Mathematiker, der das Ende des Kommunismus
vorausgesagt hatte, woraus eine lebenslange Freundschaft entstand. Christian Sachse, Berlin 2010 |